Ausstellung
Valérie Favre – Der Dritte Bruder Grimm

Lapine univers columbia mit adler, 40 x 30 cm, Öl auf Leinwand, 2006

Valérie Favre

Der Dritte Bruder Grimm

28.9. – 26.11.2006

Das Haus am Waldsee zeigt als erstes Berliner Ausstellungshaus die Schweizer Künstlerin Valérie Favre in einer Personalausstellung. Valérie Favre übersiedelte 1998 nach Berlin, nachdem sie in Paris in den Neunziger Jahren zu einer der meistdiskutierten Malereipositionen Frankreichs avancierte. In Deutschland war sie zuletzt im Kunsthaus Dresden und im Kunstverein Münster in Einzelausstellungen zu sehen. Im Oktober 2006 tritt Valérie Favre eine Professur an der Universität der Künste Berlin an.

Im Haus am Waldsee werden verschiedene Werkgruppen zusammengeführt, an denen Valérie Favre in den letzten vier Jahren parallel gearbeitet hat. Die Zusammenschau bietet einen komprimierten Blick auf die Themen und die Arbeitsmethoden der Malerin, die Anfang der Achtziger Jahre als Schauspielerin beim Film und beim Theater begann, ehe sie zur alleinigen Regisseurin ihrer eigenen Bilder wurde und in die Kunst wechselte. Immer wieder reflektiert Favre auf die Bildsemantik und die Zeitlichkeit des Kinos und in bühnenhaften Landschaften setzt sie den Auftritt ihrer emblematischen Kunstfiguren in Szene, baut ihren Bildraum aus zu einem narrativen Ereignis.

Hier tritt auch Favres markanteste Figur auf, die „LAPINE UNIVERS/ Universal-Häsin“. Sie durchwandert Gemälde und großformatige Ölbilder auf Papier als Handlungsreisende. Die hybride Frauengestalt mit langen Hasenohren ist ein burschikoses Fabelwesen zwischen Pin-Up-Girl, Comicfigur und Widerstandsmodell. In ihr finden sich Repräsentationsmodelle femininer Galionsfiguren und Maskottchen, Heldinnen und Antiheldinnen der aktuellen Medienkultur ebenso gespiegelt wie die Rolle der Künstlerin selbst: „La Pine“, das ist im französischen Wortspiel auch der Pinsel als weiblicher Penis in der Hand der Malerin – ein Zauberstab, der Welten, Figuren und Geschichten erschafft. Die „Lapine Univers“ ist damit zugleich Spiegelbild, Logo und kritische Instanz von Valérie Favres eigener Bildproduktionsmaschine.

COLUMBIA PICTURES, eines der größten Medienunternehmen weltweit, trägt eine triumphierende Frauengestalt im Firmen-Logo, der Freiheitsstatue gleich. Favre hat diese in „Lapine Univers Columbia“ durch ihr eigenes Geschöpf, die Lapine, ersetzt und damit augenzwinkernd selbst einen Anspruch auf die Gestaltungshoheit der großen Bilderzählungen okkupiert. Aber statt einer Siegesfackel trägt Favres „Columbia“ einen toten Adler im Arm und streckt dem Publikum ihren Mittelfinger entgegen – ist privates Anti-Logo und Gegenbild der Machtmaschine Hollywoods. Den großen Geschichtenerzählern der Kinoindustrie stellt Favre ihren persönlichen Erzählraum der Malerei samt des zugehörigen Figurenmilieus entgegen.

Der Ausstellungstitel „DER DRITTE BRUDER GRIMM“ formuliert diesen Anspruch, neben die vorhandenen, wohlbekannten Erzählungen – gleich ob Märchen, Kinofilm, Roman oder Kunstgeschichte – eine eigene Variante zu setzen, eine persönliche Alternative, einen privaten Widerstand und eine bislang ungekannte Ergänzung. Mit zwei gleichnamigen, großen Tryptichen lädt Valérie Favre ihr Publikum ein, den Raum ihrer subtilen, vielbödigen Erzählkonstruktionen zu betreten und Zeit darin zu verbringen. Wie lässt sich der Zeitablauf einer filmischen Erzählung in die Betrachtungszeit eines gemalten, statischen Bildes verschieben? Diese in Favres künstlerischem Werk der letzten Jahre zentrale Frage wird hier ausbuchstabiert. In der Serie der „Autos dans la Nuit/ AUTOS IN DER NACHT“ stehen 24 kleine Ölbilder für die 24 Bilder einer Filmsekunde – ein Gedanke, der auf David Lynchs “Mulholland Drive” zurück geht. Diese Bilder provozieren eine Zeitwahrnehmung – und eine Wahrnehmungszeit – in welchen der narrative Gehalt von Malerei gegen jenen des Kino- und Theaterspektakels ausgespielt wird. Eine banale Sekunde Film, eine Autoszene bei Nacht, wird in 24 verschiedene pikturale Erzählweisen zerschnitten, die man in der Ausstellung Bild für Bild gemächlich abschreitet.

Dem steht die Bildserie der „BALLS AND TUNNELS“ wie eine Antithese gegenüber. Seit 15 Jahren malt Favre ein Bild dieser Serie pro Jahr. Titel und Struktur der stets gleich abstrakten Kompositionen ironisieren die Mythen und Allmachtsphantasien künstlerischer Schaffenspotenz. „Bälle“ und „Tunnel“ sind in diesen Bildern Hoden und Vulva, Planeten und Schwarze Löcher, Kleckse und Farbstrudel, das ganze Universum und doch nur Schmiererei. Das alljährliche Bildritual konterkariert clever und humorvoll den eigenen Schaffensgestus und Favres Anspruch, mit Malerei noch „Geschichten“ erzählen zu wollen.

Die konzeptuelle Befragung unterschiedlicher ZEIT- UND ERZÄHLEBENEN der Malerei zeigt sich in der Ausstellung als ein Hauptinteresse von Favres weitläufigem Werk, das die Künstlerin in großen Serien, langen Zeitabläufen und reichhaltigen internen Bezügen angelegt hat. In stets kräftigen, leidenschaftlichen, einfallsreich-originellen Bildern zeigt die Malerin eine engagierte, intellektuelle Arbeit am Bild. Routine und Hektik zuwider, hat Favre ihre Bildinszenierungen „verlangsamt“, hat sie zu vermeintlich statischen Fiktionen ausgebaut, die jedoch im Innern ihrer Bildräume pulsieren und immer neue widerspenstige Bewegungen vollziehen und eine offene Zahl möglicher, niemals festgeschriebener Erzählungen bergen – Erzählungen, als deren Träger und Provokateur ihr die Mittel der Malerei willkommen und zu Diensten sind.

Im Rahmen von Art France Berlin gefördert durch: Kultur- und Medienabteilung der Französischen Botschaft in Berlin, Culturesfrance, Bureau des Arts Plastiques

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