Digitalreihe Design: Johanna Seelemann

In der aktuellen Ausstellung “New Normals” schafft der Industriedesigner Konstantin Grcic im Haus am Waldsee aus seinen gestalteten Objekten und alltäglichen Materialien Konstellationen, die in den Betrachter*innen eigene Vorstellungen von möglichen Zukunftsperspektiven erwecken. Wie vielfältig zukunftsgerichtetes Design aussehen kann, wollen wir in dieser digitalen Reihe weiter ergründen, in der verschiedene Designer*innen ihre Ansätze und Visionen vorstellen.

Johanna Seelemann (*1990) ist eine deutsche Designerin, die in ihrer Praxis alltägliche Gegenstände und Materialien unserer Umgebung und deren Hintergründe erforscht. Die Ergebnisse jener Erkundungen sind stets als optimistische Anregungen und Vorschläge formuliert, die alternative Zukunftsszenarien vorstellbar machen.

Am 7. Mai 2022 findet im Haus am Waldsee ein Design-Symposium mit Konstantin Grcic, Johanna Seelemann und Studio Œ zum Thema „Practising Design. Wie entsteht relevante Gestaltung heute?“ statt. Die Veranstaltung wird von den Kurator*innen der Ausstellung, Anna Himmelsbach und Ludwig Engel, moderiert. 

Das Alltägliche umgestalten

Wenn Materialien sprechen könnten, was würden sie uns erzählen? Würden sie berichten von ihrem Ursprung, ihren Reisen, den Orten und Menschen, die sie trafen und all dem Wissen in zahlreichen Köpfen, das es bedurfte, um sie so zu gestalten, wie sie jetzt sind? Würden die Materialien der Meinung sein, dass wir sie geformt haben, oder sie uns, unsere Kultur und Gesellschaft? Wo stünden wir, wenn es auch nur eins von ihnen nicht gäbe? Wenn nun verschiedene Materialien in einem alltäglichen Produkt gebündelt sind, das dem globalen Netzwerk an Lieferketten entsprang, ist es nicht fraglich, wie “normal” unsere Alltagsgegenstände überhaupt sein können? Denken Sie an eine einfache Banane, ein Brot, eine Aluminiumdose oder ein Auto.

In meiner Arbeit als Designerin hinterfrage ich häufig, was es bedeutet, ein Produkt zu gestalten. Jedes Material hat eine Geschichte und es fasziniert mich, diese zu erforschen. Denn als Designer entwirft man nicht nur ein nutzbares Objekt, sondern mit jeder Entscheidung im Prozess gestaltet man die Zusammenhänge von Landschaften, Lebewesen, Transportwegen, Aktionen und Visionen.

Vor einigen Jahren lebte ich zeitweise in Island. Wie allerorts sprach es sich auch dort herum, dass es zunehmende Lebensmittelverschwendung in den Supermärkten gab, da das Essen wegen angegebener Haltbarkeitsdaten vorschriftlich weggeworfen werden musste. In Island, wo die Jahresdurchschnittstemperatur der von der EU empfohlenen Kühlschranktemperatur liegt, schien es besonders einfach vollkommen feine Früchte und Gemüse in den draußen stehenden Tonnen zu entdecken. Ein isländischer Freund namens Björn Steinar Blumenstein und ich wollten dem nachgehen und sahen uns tatsächlich immer wieder mit Unmengen überwiegend makelloser exotischer Früchte konfrontiert, insbesondere Bananen.

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Johanna Seelemann und Björn Steinar Blumenstein, Banana Story, Reisepass, seit 2016

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Johanna Seelemann und Björn Steinar Blumenstein, Banana Story, Made-In-Etikett, seit 2016

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Johanna Seelemann und Björn Steinar Blumenstein, Banana Story, Made-In-Etikett, seit 2016

Johanna Seelemann und Björn Steinar Blumenstein, Banana Story, seit 2016

Jetzt stellen Sie sich eine Banane in der Schneewüste Islands vor. Wir wurden stutzig, denn so wie eine Banane wunderbar als Repräsentantin für unsere schnelle Zeit dient, genauso außerirdisch wirkt die Frucht auf einer Insel in der Mitte des Nordatlantiks unter genauerer Betrachtung. Ganz zu schweigen davon, dass der Transportweg von Ecuador nach Island auch nur einen Bruchteil länger ist als der von Ecuador nach Deutschland.

Wir als angehende Designer wollten das System verstehen, welches uns auf täglicher Basis mit Dingen vom anderen Ende der Welt beliefert, die für einen Spottpreis erwerbbar sind. Also trafen wir Lebensmittelimporteure und Handelsunternehmen, die uns aufklärten, dass es für Obst und Gemüse keine Saison mehr gäbe. Wenn etwas an einem Ort aufhöre zu wachsen, importierten wir es eben von einem anderen. Die Standardisierung von Transportmitteln und die Containerrevolution der 1960er-Jahre waren der Motor zur Beschleunigung von Handelsströmen weltweit, sodass es plötzlich effizient wurde, sich auf die Herstellung einzelner Produkte zu spezialisieren und diese weltweit zu handeln. Es ist dieser scheinbar verborgene Raum von Zügen, Lastern und Frachtschiffen zwischen Produktion und Konsum, der uns zu faszinieren begann.

 

Johanna Seelemann und Björn Steinar Blumenstein, Banana Story, seit 2016

 

Aus unseren Erkundungen entstand ein Projekt, welches wir Banana Story nannten, und wir entwarfen nicht nur einen Reisepass für eine standardisierte Cavendish Banane aus Ecuador mit Stempeln von Kanälen und Transithäfen, sondern auch ein ungewöhnlich langes Made-in-Etikett, welches Wimmelbild-artig illustriert, wie sie über circa 12.534 km in rund 30 Tagen auf einem Frachtschiff reist, durch 33 verschiedene Paar helfende Hände geht und von Guayaquil nach Reykjavík in den Supermarkt gelangt. Eine Art von lückenloserem Made-In-Etikett, welches wir uns für alle alltäglichen Produkte wünschen.

Design kann ebenso ein Raum sein für das Erforschen dessen, was nicht auf messbaren Daten basiert oder strikt funktional ist. Stattdessen spricht es Sinneswahrnehmungen, Gewohnheiten, Symbole, Rituale, Emotionen oder Identität an. Ein Produkt selbst kann zum Gesprächsgegenstand werden, indem es Werte infrage stellt, ein Gegenbeispiel bietet oder unkonventionelle Sichtweisen präsentiert. Ein gestaltetes Objekt kann aber auch utopisch sein, wie die Requisite einer Wunschvorstellung, als Spur von einer noch nicht erreichten, aber erstrebenswerten Zukunft.

Deutschlands Exportschlager, das Auto, packte mich etwas später. Die Automobilindustrie hat ein Schlüsselmaterial, welches seit über 100 Jahren verwendet wird, um Karosserien in ihrer Gestalt zu entwickeln und zu perfektionieren. Aus MarsClay, einer formstabilen, reißfesten und alterungsbeständigen Modelliermasse, wird jede Kurve eines neuen Automodells zuerst per Hand geformt, im Maßstab 1:1. Mit der Absicht einen neuen Schritt in einer unumgänglichen Evolution zu verkaufen, wird eine Karosserie erarbeitet, Bauteile ästhetisch überarbeitet, immer mit den Alleinstellungsmerkmalen der jeweiligen Marke. Und nicht selten unterliegt die technologisch aerodynamische Evolution doch der visuell ästhetischen Innovation. Die Eigenschaften von MarsClay inspirierten mich dazu, seine Funktionen umzukehren. Statt es als Prototypenmaterial zu verwenden, sollte es das Produktmaterial selbst werden.

Johanna Seelemann, Terra Incognita, 2019

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Johanna Seelemann, Terra Incognita, 2019

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Johanna Seelemann, Terra Incognita, 2019

Terra Incognita ist eine Produktkollektion, die eine stete Transformation von Stilen und ästhetischen Sprachen berücksichtigt und gleichzeitig Anpassungen und Veränderungen durch ihre Materialität ermöglicht. Die Idee ist, dass Wandel und Wunsch nach Anpassungsfähigkeit eine dem Produkt innewohnende Qualität ist. Statt ein altes Produkt mit einem Neuen zu ersetzen, kann es deformiert und umgestaltet werden. Alle zu Transformationszwecken abgeschabten Materialien können erwärmt, geformt und wieder hinzugefügt werden, wodurch das Objekt an Gebrauch und Stil angepasst werden kann. Während ich das Konzept entwickelt, theoretisch erforscht und die Kollektion produziert habe, bezieht sich die Formensprache der abstrakten möbelgroßen Objekte auf Concept Cars und wurde in Zusammenarbeit mit dem Auto- und Produktdesigner Daniel Rauch entwickelt und verfeinert.

“Austausch, Resilienz und Anpassungsfähigkeit” sind einige der Begriffe, die meine Projekte neuerdings zunehmend antreiben. Die drei Worte sind vereint durch den Umgang mit Veränderung und Unbeständigkeit. Wandel findet geplant oder unerwartet, auf natürliche oder künstliche Weise, über kurze oder lange Zeit statt. Nichts ist permanent. Und unser materieller Stoffwechsel scheint sich stetig zu beschleunigen durch Veränderungen in Kultur und Gesellschaft. Lebensweisen, Gewohnheiten und Geschmack wandeln sich, neue Identitäten und Beziehungen entstehen und mit ihnen Wünsche und Bedürfnisse.

Johanna Seelemann, Hortulanus, 2021-22

Johanna Seelemann, Hortulanus, 2021-22

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Johanna Seelemann, Hortulanus,  2021-22

Johanna Seelemann-Hortulanus

Johanna Seelemann, Hortulanus, 2021-22

Mein jüngstes Projekt Hortulanus geht der Frage nach: Wie können wir gesunde Produktions- und Konsumweisen gestalten? Hortulanus besteht aus altbekannten, vielerorts lokal vorkommenden Materialien wie Stroh, Ähren und Lehm sowie einheimischen Architekturtechniken und Erntedank-Ritualen, welche für die Zukunft neu gedacht werden sollten. Sie sind kompostierbare Möbelstücke, die kaum graue Energie beinhalten und nicht weit transportiert werden müssen. Sie zielen darauf ab, nicht für die Ewigkeit gemacht sein zu müssen, sondern eine bewusst begrenzte Lebensdauer zu haben, Wartung und Verfall in ihr Design mit einzubeziehen, welches im Gegenzug verspielt nahezu verschwenderisch sein kann. Sie zielen auch darauf ab, wie groß oder klein Materialkreisläufe eigentlich sind. Die Hortulanus-Formsprache spricht eine Ästhetik an, die seit Langem mit Hightech in Verbindung gebracht wird, und schlägt es vor, auch naturzentrierte Alternativen und altes Wissen in unsere Zukunftsvisionen mit einzubeziehen. Stellen Sie sich vor, unser Konsum hätte keine negativen Auswirkungen auf diesen Planeten – im Gegenteil, mit unseren Taten hinterließen wir keine oder schier positive Spuren.

Meine Designs stehen als Ideen im Raum, welche verspielt und hoffnungsvoll ein “Was wäre, wenn…?” vorschlagen, und gleichzeitig das Alltägliche für eine erstrebenswerte Zukunft rüsten wollen.

Johanna Seelemann

 

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Johanna Seelemann, Foto: Annett Poppe

Johanna Seelemann studierte Contextual Design an der Design Academy Eindhoven sowie Produktdesign an der Isländischen Universität der Künste in Reykjavík, an der sie seit 2020 lehrt. Zuvor unterstützte sie das Studio Formafantasma bei den Projekten Ore Streams und Cambio.

Seelemanns Arbeiten wurden unter anderem im Victoria & Albert Museum in London, in der Villa Noailles in Hyères, im MAKK Museum Köln, im Design Museum Helsinki, im Vandalorum Schweden, in der Kunsthalle Zürich, im Kunstmuseum Tondern und im TextielMuseum in Tilburg ausgestellt.

 

 

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